Von Tod und Geburt der Gegenwartsliteratur im Internet

Research & Education
Mittwoch, 7. Mai 2014 - 14:15 bis 14:45
stage 5
Beginner
Deutsch
Vortrag

Kurzthese: 

In Abgrenzung zur Untergang-des-Abendlands-Rhetorik, die die Debatte um die Gegenwartsliteratur im digitalen Zeitalter begleitet, möchte mein Vortrag das Internet als Geburtsstätte von Gegenwartsliteratur im eigentlichen Sinn profilieren: Online entsteht zeitgenössische Literatur, die das Jetzt nicht nur in Text bannt, sondern selbst dynamischer Teil der Gegenwart ist.

Beschreibung: 

Das Internet ist ein Massenmörder. Der Brief, die CD, die persönliche Handschrift und die guten Umgangsformen, Reisebüros und Videotheken - heimtückisch ermordet durch die dunkle Macht des Digitalen. Auch unter den Opfern: Die Gegenwartsliteratur. Gar nicht so sehr das Buch an sich, das in Form von Historienschinken und Fantasy-Sagas durchaus Konjunktur hat, als tatsächlich die Literatur als sinnstiftende Erzählung des Jetzt: Mutlos, ideenlos, kraftlos hat die zeitgenössische Literatur nichts zu einer digitalen Gegenwart zu sagen, die sie konsequent aus ihren Erzählungen ausklammert.

Diesem Lieblingslamento des deutschen Feuilletons möchte mein Vortrag eine literaturwissenschaftliche Perspektive entgegensetzen, die das Netz nicht als Massengrab hehrer literarischer Traditionen verteufelt, sondern es im Gegenteil als Ort eigenständiger und vielfältiger Literaturproduktion, -publikation und -rezeption ernst nimmt. Am Beispiel von autobiographischen Blogs möchte ich zeigen, wie die Online-Schreibpraxis an traditionelle literarische Gattungen anknüpft und sie zugleich überschreitet: Gegenüber seinem analogen Vorläufer dem Tagebuch etwa, verflüssigen sich im Blog die Grenzen zwischen Erleben und Schreiben, Publizieren und Diskutieren. Der geschriebene Text ist kein statisches Dokument eines spezifischen Zeitpunkts mehr, sondern verändert sich durch Kommentare, Nachträge, Verlinkungen permanent weiter. Der Blogtext ist somit nicht nur ein Stück geschriebene Gegenwart, sondern selbst dynamischer Teil von ihr. So löst die zeitgenössische Internet-Literatur den Begriff ‚Gegenwartsliteratur‘ auf völlig neue Weise ein.

Mein Vortrag schließt an mein Dissertationsprojekt einer Poetik des Blogs an der Universität Göttingen an und ist auch der Versuch, eine geisteswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Internet als kulturellem Raum anzustoßen.

Videoaufzeichnung: 

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